Visiozination

Visiozination

Die weiß gestrichene Raufaserecke des kleinen, verschmutzten Raumes tanzt paralysierend zu einem nichtvorhandenen, viel zu hektischen Rhythmus. Ekstatisch vollführt die Ecke helixförmige Ballettsprünge. Mein im Takt plätschernder Magen scheint die Bewegungen nachahmen zu wollen. Jener wirkt als Tänzer jedoch ungelenk, hinkt und stolpert auf und ab. Schmerzgesättigt wende ich meinen Blick ab.

Die einhundert Watt Glühlampe blendet meine empfindsamen, blau – rot angelaufenen Augen. Wie eine gläserne, irreal wirkende Lichtscheibe schwebt dieses Gebilde vor meinen zugekniffenen Gelatineäpfeln. Die Grellwellen locken Tränen hervor. Bedächtig, viel zu langsam, rinnen sie über meine aufgedunsenen, rotschillernden Wangen. „Schaisss Lammbe!“ lallt es kriechend meinen wunden Kehlkopf entlang. Ächzend und kriechend versucht mein betäubter Arm nach der braunschillernden Flasche zu greifen.

Meine verschwommene, doppelsträngige Extremität schlängelt sich gen Sehnsuchtshafen. Tollpatschigkeit lässt jenen Untergehen. Das gerstige Wasser umarmt das polierte Parkett, wie ein liebeshungriger Irrer. Mit irritiertem Blick beobachte ich das gelbe Nass. Es scheint zu leben, zu atmen. Die Umrisse der Lache verschieben sich zu einem Ganzen. Weibliche Züge werden ersichtlich. Zuerst nur ganz verschwommen, unwirklich, aber nach und nach überdeutlich. Ein Antlitz wird fassbar, schwebt nun direkt vor mir. Die gelbe Lache aus der Flasche ist nun verschwunden.

Zarte Lippen, die meinen Namen undeutlich flüstern. Smaragdgrün strahlende Katzenaugen, die mich verführerisch anblicken. Nasses, im Wind wehendes Haar, streichelt und liebkost mein Gesicht. All dies ist vertraut, dennoch fremd. Ein Déjà-vu-ähnliches Empfinden legt sich wie ein lauer Lufthauch über meine Sinne. Plötzlich schlägt es wie ein Asteroit in mir ein. Dieses weibliche Gesicht kennst du, sehr gut sogar. Dieses Lächeln hast du tausendfach wahrgenommen, bewundert und erwidert. Jenem verführerischen Blick erlagst du fast immer, immer wieder. Aber wer ist sie nur?

Mein Verstand ist benebelt, die Umgebung um mich herum ergibt keinen Sinn, leuchtet schwarz in mein Gesicht. Ich drehe mich um meine eigene Achse, das verführerisch schöne Gesicht stets vor mir. Ich höre meinen Namen aus ihrem Mund, ihre Stimme hallt durch den Raum, klingt wie sanftes Harfenspiel. Ich lechze nach ihr, strecke meine Hand nach ihr aus, streichle ihre warme, roséfarbene Wange. Sie ist perfekt, beinahe göttlich, unerreichbar. Meine personifizierte Sehnsucht, sie schwebt vor meinen lüsternen Augen. Langsam nähere ich mich ihr, streiche zärtlich mit meiner Hand über ihr Gesicht.

Andächtig berühren sich unsere Lippen, erst liebkosend, dann innig küssend. Unsere balzenden Zungen tanzen sich umarmend durch dunkle Gemächer. Ich will sie, an jenem Ort, zu genau dieser Zeit.

Mit einem krachenden Schmerz werde ich aus meiner Lust gerissen. Schallendes Gelächter erhellt den schmutzigen Raum. Ich finde mich in einem Bach aus Bier und Erbrochenem wieder. „Warum lacht ihr so bescheuert?“ fährt es aus mir. Lachend, sich kaum halten könnend, antwortet einer der Prustenden: „Nachdem du dein Bier umgeworfen hast, lagst du eine halbe Stunde in der Pfütze, versuchtest sie aufzulecken und hast dann das ganze Parkett vollgekotzt…“

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